Menschenwürde nach Kassenlage

Der Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert war zu Gast bei Tisch&Teller

„Es ist ein Skandal wo man hinsieht.“ der bekannte Darmstädter Sozialrichter Jürgen Borchert  war zu Gast bei Tisch&Teller, dem Gebrauchtwarenmarkt der Diakonie in Flörsheim am Main. In einem öffentlichen Vortrag sprach er über „Menschenwürde nach Kassenlage“.

In vielen Beispielen führte Borchert aus, wie die Schwächeren in der Gesellschaft zunehmend stärker abgeschöpft werden als die Wohlhabenden. „Regressiv“ nannte er diese Vorgänge. Umverteilung sollte progressiv sein und für mehr Gerechtigkeit sorgen. „Wenn Sie Wasser mit einem Sieb von einem Topf in den anderen verteilen, können Sie schöpfen so viel Sie wollen.“ Es gäbe keine Umverteilung zwischen arm und reich. Am Ende habe jeder so viel in der Tasche wie am Anfang. „ Armut liegt eben nicht am Geld, sondern an der falschen Verteilung.“

Das deutsche Steuerrecht nannte Borchert ein „intransparentes feudales System“ mit 160.000 Vorschriften, obwohl das Gesetz die gerechte Verteilung der Steuerlast vorschreibe. Deutschland verlange weltweit die härtesten Abgaben, 30 Prozent Verbrauchssteuern und 40 Prozent Sozialbeiträge. Die indirekten Steuern würden beim Staat immer beliebter. Ein Euro Steueranteil beim Sprit wiege beim Kleinverdiener schwer, der Großverdiener verkrafte diese Steuer leicht. Je kleiner das Einkommen, desto stärker würden die Leute belastet. Der kleine Mann versteuere alles war er habe noch einmal, weil bei ihm alles in den Konsum gehe und nichts zur Vermögensbildung übrig bleibe.

Da durch die steigenden indirekten Steuern die Reallöhne sinken, müsse der Gesetzgeber im Gegenzug das Kindergeld erhöhen, tatsächlich gewähre er aber noch nicht einmal die zustehenden Steuerentlastungen für Kinder und Familien, da die Durchschnittsfamilie mit zwei Kindern unter dem steuerlichen Existenzminimumm lebe, also zu wenig verdiene, um in den Genuss der Steuerentlastungen zu kommen. Dem kleinen Mann enthalte man die Steuervergünstigung vor, die Mittelschicht bezahle die Zeche und „die Steuervermeidung bei den höheren Einkommen stinkt zum Himmel.“

Auch die Sozialversicherung sei nicht gerecht. Sie belaste die Schwachen doppelt so stark wie die Gutverdiener. Und der Arbeitgeberanteil sei kein Geschenk, sondern „vorenthaltener Lohn“. Und beim Bildungspaket, das einen ganz kleinen Ausgleich schaffen soll, habe der Gesetzgeber an zahllosen Stellen getrickst. Wenn von den 700 Millionen Euro 120 Millionen Euro allein für die Verwaltung verbraucht werden weil alles unendlich kompliziert sei, dann sei das ein Missverhältnis zwischen Nutzen und Verwaltungsaufwand.

Die Zahl der Menschen, die im Niedriglohnsektor arbeiten habe sich zwischen 2003 und 2010 mehr als verdoppelt. Zurzeit verdienten 5,8 Millionen Menschen weniger als 8,50 Euro pro Stunde. Wer so wenig verdiene sei im Alter auf ergänzende Zahlungen angewiesen. Selbst Arbeitnehmer, die über 40 Jahre, also ihr ganzes Berufsleben lang, 11 Euro pro Stunde bekämen, erwarte eine monatliche Rente von nur 700 Euro. Im Unterschied dazu steige das Finanzkapital mehrfach stärker an als das Sozialprodukt. Echte Nettovermögenszuwächse zeigten sich nur im obersten Zehntel der Gesellschaft, dort aber kräftig, während der Mittelstand einigermaßen über die Runden käme, erlebten die unteren vier Zehntel einen  finanziellen Stillstand oder hätten Schulden. „Die Armut wächst spiegelbildlich zur Reichtumskonzentration.“

Den Banken warf Borchert „Wertschöpfung aus dem Nichts“ vor. Aus Passiva mache sie Aktiva. Wer es sich leisten könne, dem Staat in der Finanzkrise Geld zu leihen, könne sich über die Zinsen freuen. Und die Staatsverschuldung durch die Euro-Krise habe schon 80 Prozent des Bruttoinlandprodukts erreicht. Und Borchert zitierte ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes von 2010: „Der Staat hat den Hilfsbedürftigen die materiellen Voraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein zur Verfügung zu stellen.“ Aber das Gleichgewichtsorgan unseres staatlichen Systems, das Bundesverfassungsgericht, werde immer wieder ausgehebelt.

Seit 25 Jahren ist Borchert Richter am Landessozialgericht in Darmstadt und hat sich mit seinem Kampf um Reformen in der Sozial- und Familienpolitik einen Namen gemacht. So trat er mehrfach als Sachverständiger vor dem Bundesverfassungsgericht auf und prägte Urteile wie das "Pflegeurteil" oder die Überprüfung der Hartz-IV- Regelsätze. Als politischer Berater ist Borchert auf Bundes- und Landesebene bei allen Parteien anerkannt und erhielt im Mai dieses Jahres den Regine-Hildebrandt-Preis für Solidarität.